Ein Gespräch mit Andreas Herzog (Regie), Marcus Kanter (Bildgestaltung) und Astrid Ströher (Buch)

„Ich finde, man muss dieses Thema emotional so brutal wie möglich erzählen“

Maria (Dela Dabulamanzi), Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Melly Böwe (Lina Beckmann) am Tatort (m., Holger Daemgen).
Maria, Katrin König und Melly Böwe am Tatort. | Bild: NDR / Christine Schroeder

"Ich finde, man muss dieses Thema emotional so brutal wie möglich erzählen" – Ein Gespräch mit Andreas Herzog (Regie), Marcus Kanter (Bildgestaltung) und Astrid Ströher (Buch)

Ihr Film beginnt mit einer kurzen Erzählung in Bildern, deren Sinn sich erst retrospektiv erschließt. Wie viel Programmatik steckt in dieser Exposition?

ANDREAS HERZOG: Mir ging es darum, gleich möglichst viele Fragen aufzumachen und eine Welt zu entwerfen. Ich versuche bei allem, was ich mache, jedes einzelne Wort und jeden Satz zu überprüfen, ob es das wirklich braucht. Ob man nicht etwas in Bildern erzählen kann und damit eine andere Spannung aufbaut. Wir wollen nicht alles vorgefertigt auf dem Silbertablett servieren und erklärbärmäßig aufbereiten, sondern neugierig machen.

ASTRID STRÖHER: Und wir signalisieren den Zuschauern damit: Das wird jetzt ein Film, der wehtut. Es wird ernst. Wir sagen nicht nur, hier sind Dinge passiert, von denen noch nicht klar ist, wie sie zusammenhängen, um dadurch Neugier zu entfachen, sondern lösen gleich eine Art Unbehagen aus, das dann im weiteren Verlauf auf verschiedenen Ebenen, auch durch die Musik, weitergeführt wird.

MARCUS KANTER: Zum Filmanfang wollten wir mit der emotional visuellen Montage den Zuseher abholen und das inhaltliche Thema der Geschichte aufladen. Die Szene lag drehplanmäßig auf unserem ersten Drehtag, das hat bei Schauspielern und Team gleich die Spannung erhöht, wohin unsere Reise bei der Folge NUR GESPENSTER geht. Was mich besonders freut ist, dass es sich nun so gut ausgeht, was auch der Verdienst vom Editor Gerald Slovak ist.

Eine junge Frau verschwand vor vielen Jahren. Jetzt finden sich Spuren von ihr an einem Tatort. Wer ist sie? Warum verschwand sie? Diese Fragen beschäftigen die Ermittler. Dass diesem Fall ein Missbrauch zugrunde liegt, wird erst allmählich klar. Worum geht es in Ihrer Geschichte?

AST: Es geht um die Folgen von Kindesmissbrauch, darum, was er für Verwüstungen in den Seelen von Menschen und in unserer Gesellschaft hinterlässt. Wenn wir von Missbrauch hören oder lesen, sind wir immer alle entsetzt. Aber dann vergessen wir es wieder, bis der nächste Bericht kommt. Ich wollte dieses Thema auf eine Art erzählen, wie es noch nicht erzählt wurde. Hier geht‘s nicht darum, dass ein Kind aus einer aktuellen schlimmen Notlage befreit oder gerettet werden muss. Es geht um Menschen, die lernen mussten, mit dem, was ihnen angetan wurde, zu überleben. Den Aspekt finde ich ganz wichtig: dass die Opfer ein Leben lang Opfer bzw. Geschädigte bleiben. Was macht das mit ihnen und mit ihrem Leben? Und was für neue Gewalt und Verwüstungen können daraus entstehen? Diese Fragen standen im Vordergrund.

Wir tauchen in ein mittelständisches Milieu ein. Besonders im Haus von Evelyn Sonntag sehen wir auffällig schöne Bilder und viel Helligkeit. Diese Bilder weisen weit weg von dem Grauen, das darunterliegt. Wie sah das Konzept für die optische Umsetzung der Geschichte aus?

AH: Der Schlüssel ist die Überhöhung der Normalität. Wir sehen eine Frau, Evelyn Sonntag, die dasitzt und einen Teller Suppe isst, was an sich nichts Besonderes ist. Aber im Kontext der Geschichte ist es ein Bild der unglaublichen Einsamkeit. Helligkeit ist in dem Zusammenhang ein gutes Stichwort. Die Dinge, die Astrid Ströher beschrieben hat, der Missbrauch, das alles passiert vor unseren Augen, immer wieder. Aber keiner sieht es oder keiner will es sehen. „Es geschah am helllichten Tag“, so hieß mal ein Film mit Gert Fröbe, in dem dieses Nicht-Sehen auch eine Rolle spielte. Das Wegignorieren von solchen Sachen – man hört oder spürt was, aber man will es nicht wahrhaben – das findet bei uns gerade durch diese Helligkeit und durch die Überhöhung von normalen Situationen seine Entsprechung.

Als sich der Missbrauch herauskristallisiert, steht die Möglichkeit im Raum, dass der Mord vom Anfang Teil eines Rachefeldzug von Jessica Sonntag ist. Das Spiel mit den Erwartungen verleiht dem Film Spannung. Wie lenken Sie die Zuschauer?

AST: Eine Herausforderung bei diesem Unterhaltungsformat ist, dass es die Regeln des Krimis bedient und den Zuschauer miträtseln lässt, aber gleichzeitig ja wirklich etwas von einer emotionalen und gesellschaftlichen Relevanz erzählt. Bei dem Buch war nicht nur die Frage schwierig, wann kommt das Thema Missbrauch, sondern auch, dass wir eigentlich zwei Fälle haben, zwei Mordfälle oder Todesfälle, was sich erst so nach 22 Polizeiruf 110: Nur Gespenster und nach herausstellt. Auch dass der Fall durch das Verschwinden der jungen Frau in die Vergangenheit reicht, war dramaturgisch eine Herausforderung. Da die Kommentare so durchzunavigieren, dass man als Zuschauer nicht total im Nebel steht, aber auch nicht zu viel erfährt, war nicht einfach.

AH: Man muss ja auch schauen, dass das Ganze eine ermittlerische Logik bekommt. Was weiß der Zuschauer, was ahnt er? Und natürlich müssen die Ermittler mindestens genau so viel wissen. Das widerspricht aber dem Gedanken, dass man nicht zu viel von der ganzen Geschichte verraten will. Der erste Verdacht, dass ein Missbrauch im Hintergrund steht, kam ursprünglich erst weiter hinten in der Geschichte auf. Aber am Ende stellte sich heraus, dass es spannender wird, wenn man kein großes Geheiminis darum macht. Es geht nicht so sehr um die Frage, wer hat es gemacht, sondern warum passiert das alles? Wie passt es zusammen? Auch für die Entwicklung der Figuren ist das wichtig. Wenn man früh weiß, worum es geht, können wir näher bei den Figuren sein und das Drama erzählen, das sie durchleben.

Jeder Rostocker Fall erzählt auch etwas Neues über die Ermittler. Was war Ihnen wichtig bei der Inszenierung des Rostocker Teams und der Verbindung von Fall und Horizontale?

AST: Erstmal ist es natürlich eine große Freude, für dieses tolle Format, für dieses Ensemble und mit diesen Horizontalbögen zu arbeiten. Da sich das Kommissariat gerade neu aufstellt, musste man ein bisschen rumprobieren: Wie bewegen sich die Figuren, wie tarieren sie sich in ihrem Beziehungsgeflecht neu aus, wie wachsen sie neu zusammen, welche Risse gibt es da? Das war ein tolles neues Spielfeld und sehr spannend.

AH: Die Verbindung zwischen Fall und Horizontale herzustellen, war nicht schwer. Alle Figuren in dem Film haben ein gemeinsames Problem: den Verlust eines geliebten Menschen. Und damit geht immer Schuld einher. Jeder fragt sich, bin ich selbst schuld an dieser Geschichte? Und diese zwei Worte, Verlust und Schuld, kann man dann mit der Kamera, mit der Musik, mit dem Schnitt immer wieder abgleichen, oder Dinge finden, die dem entsprechen. Katrin König hat ihren Partner verloren und weiß nicht, wo er ist. Und sie hat ihren Vater verloren, und der Vater hat die Tochter verloren. Das spiegelt sich in dem Fall wieder. Melly Böwe weiß vielleicht, wo ihr Bruder ist, hat ihn aber trotzdem auch verloren. Dafür hat sie aber neue Kollegen gewonnen. Wer ist schuld daran, dass Bukow weg ist? Wer ist schuld daran, dass Jessica Sonntag verschwunden ist? Auch die Mutter fragt sich natürlich nach ihrer Schuld und hat sich die Frage mit einer brutalen Verdrängung beantwortet.

Wie trägt die Musik dazu bei, dieses Thema zu erzählen?

AH: All diese Menschen, die da so einsam und verloren sind und sich schuldig fühlen oder Verlust aushalten, schreien nach Hilfe, und das haben Chris Bremus, der Komponist, und ich versucht, in die musikalische Ebene einzubauen. Oft ist es ja gar nicht wirklich Musik, sondern eher Sounddesign. Zum Beispiel in der Szene, in der Evelyn Sonntag glaubt, Jessica gesehen zu haben, und dann barfuß über die Straße läuft. Dabei hört man Stimmen und so ein Geflüster, das man so interpretieren könnte, dass es ein Hilferuf von Jessica ist. Ihre unterlassene Hilfeleistung ist die ganz große Schuld von Evelyn Sonntag. Das ist ja der Kern des Films, dass da ein Schrei nach Hilfe nicht gehört wurde. Mehr brauchte ich Chris Bremus nicht zu sagen.

Die Kamera umkreist die umherirrende Mutter und intensiviert so den Eindruck, den diese Szene hinterlässt. Wie kam das zustande?

MK: Als Bildgestalter geht man bei allen Szenen von der Frage aus, wie man den/die Schauspieler/in und die Szene maximal unterstützen kann. Meistens haben wir mit Handkamera gedreht, so dass wir sehr flexibel und unkompliziert reagieren konnten. Mit dieser Freiheit entstehen maximale Möglichkeiten. In der besagten Szene dreht sich die suchende Judith Engel, hier konnten wir ihre Bewegung mit der Kamera aufgreifen und die verzweifelte Suche spiegeln. Eine Symbiose zwischen bewegtem Bild und Schauspiel entsteht, die Panik in der Szene wird unterstützt und ebenso die Verlorenheit der Figur. Es entstand eine Sequenz, die im besten Falle unter die Haut geht.

Judith Engel liefert als Evelyn Sonntag eine beeindruckende Performance ab. War für Sie klar, dass sie das spielen muss?

AST: Ich hatte bei der Arbeit am Buch, wie meistens, eigentlich niemand Konkreten im Sinn. Es war nur klar, die Darstellerin der Mutter muss dieses Changieren und diese Hilflosigkeit transportieren können, aber zugleich auch die Verhärtung. Als dann der Name Judith Engel fiel, war ich sehr glücklich.

AH: Mit Judith Engel hatte ich vorher schon dreimal gedreht, und als ich die erste Drehbuchfassung zur Hälfte gelesen hatte, hab ich nur noch sie in der Figur der Evelyn gesehen. Auch bei Adrian Grünewald war es so. Der war mir vorher in der Serie „Sløborn“ aufgefallen, und das rastet dann bei mir so ein. Es ist immer eine schöne Bestätigung, wenn man dann in einer gemeinsamen Runde bespricht, wer könnte das spielen, und alle sagen: Ja, genau! Bei der Mutterfigur war es wichtig, sie so zu erzählen, dass man gleich das Gefühl hat, mit der stimmt was nicht. Nur so kann ich sie als wahrhaftige Figur inszenieren und ihr abnehmen, was sie am Ende zu dem Ganzen sagt. Dasselbe gilt für Henrik Sonntag, auch der sollte gleich etwas schräg rüberkommen. Darum musste das Bild am Anfang, wo er auf dem Bett liegt und telefoniert, was sehr Spezielles haben. Marcus hatte die Idee, diesen Topshot zu machen, und sagte dann auf einmal, dass Henrik da in der Unterhose liegen muss, damit es richtig strange wird.

MK: Auf die Unterhose hab ich aber nicht bestanden. (Gelächter)

Sie erzählen von Gewalt, indem Sie die Folgen der Tat zeigen. Aber auch die ganze Brutalität, die in einem Kindesmissbrauch steckt, wird hier vermittelt. Wie sorgen Sie für die Verhältnismäßigkeit der Mittel?

AH: Ich finde, man muss dieses Thema emotional so brutal wie möglich erzählen, so brutal, wie es der Sendeplatz, also der Sonntagabend im deutschen Fernsehen, zulässt. Aber natürlich nicht auf eine Art und Weise, dass es Brutalität ist im Sinne von Splatter und Blut und so weiter. Deshalb haben wir diese Unschärfen und die Zeitlupen gewählt. Eigentlich ahnt man mehr, als man sieht. Das Ganze findet in einer filmischen Überhöhung statt, weil man es sonst nicht aushalten kann. Das ist die Limitierung; es muss eine emotionale Brutalität sein.

AST: Ich hab die Zuschauerreaktionen auf dem Filmkunstfestival Schwerin erlebt. Nach dem Ende der Vorführung herrschte Totenstille im Raum. Die Leute waren sehr betroffen, und eine Frau fragte: „Warum sollen wir uns so was ansehen?“ Die Antwort hat sie dann aber im selben Augenblick gleich mitgeliefert, indem sie sagte: „Na ja, es ist ja schon wichtig.“ Wir versuchen, dem Zuschauer die Relevanz und Ernsthaftigkeit des Themas in einer emotionalen Tiefe nahezubringen, und das finde ich wichtig.

MK: Gewalt im Film ist stärker, wenn man sie nicht offensichtlich zeigt. Es sollte ja keine voyeuristische Darbietung sein, wir wollen das Geheimnis der Geschichte und den inneren Schmerz spürbar machen. Die Handkamera geht sehr nah physisch an die Schauspieler ran, diese Nähe ist ungewöhnlich intim, dadurch werden die Charaktere maximal spürbar. Das Zusammenspiel von Judith Engel und Adrian Grünewald war sehr beindruckend. Auch Lina Beckmann und Anneke Kim Sarnau haben sich der Kamera komplett geöffnet, das sind für mich besondere Momente.

AH: Noch eine kurze Ergänzung zu dem, was Astrid gesagt hat. Denn das ist genau der Punkt: Warum soll man sich diesen Film anschauen? Es geht uns darum, eine Ebene zu schaffen, die es einem nicht erlaubt wegzuschauen. Eine Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass es Missbrauch gibt und dass diese Dinge in jedermanns sozialem Umfeld passieren können. So was gibt es, und man sollte sich damit auseinandersetzen. Ich finde, das kann so ein Film am Sonntagabend schon leisten und das kann man auch vom Zuschauer verlangen.

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