Gespräch mit Elke Schuch (Drehbuch) und Andreas Herzog (Regie)
In dem „Polizeiruf 110: Diebe“ überschneiden sich die Wege von Figuren mit sehr unterschiedlichen Lebenswürfen. Im Vordergrund steht eine ungewöhnliche Frauenfigur. Was erzählen Sie hier?
ELKE SCHUCH: Ausgangspunkt für die Geschichte war eine von der Gesellschaft ausgestoßene Einbrecherin. Mascha widerspricht allen Erwartungen. Obwohl sie drogensüchtig ist und krank, ist sie sehr selbstbewusst. Sie reibt sich an den anderen und die reiben sich an ihr, weil deren Leben eigentlich auch nicht mehr funktioniert. Im Grunde legt Mascha die Lebenslügen der anderen offen. Die Idee, dass sie ein Kind hat, das sie für ihre Diebstähle benutzt, geht auf die vorherige Redakteurin Daniela Mussgiller zurück. Sie hat mir von einem Einbruch in ihrer Nähe erzählt, bei dem ein Kind beteiligt war. Unglaubliche Geschichte, fanden wir alle. So wurde das zum Dreh- und Angelpunkt für unseren Stoff. Durch das Kind ist Mascha eine viel komplexere und ambivalentere Figur geworden. Denn Mascha ist zwar kriminell, aber auch eine Frau, die ihr Kind liebt. Dieser Widerspruch bzw. die Frage, wie sie das eigentlich mit sich selbst vereinbaren kann, hat mich interessiert. Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch den Film, denn sie spielt in der Geschichte zwischen Katrin König und ihrem Vater ebenfalls eine Rolle.
Mascha lebt in prekären Verhältnissen. Das Gegenstück zu ihr bildet ein wohlhabendes Unternehmerpaar. Sie lassen die verschiedenen Parteien im Film um etwas ringen, das ihnen allen gar nicht gehört. Warum?
E.S.: Ja, die Figuren beklauen sich gegenseitig, darum habe ich sie „Diebe“ genannt. Mir geht es darum, den Wert von Besitz zu hinterfragen. Was ist das eigentlich? Macht er uns wirklich glücklich? Interessanterweise haben alle Figuren, so unterschiedlich sie auch sind, denselben Traum vom Häuschen im Grünen.
Die ersten Minuten des Films gehören Mascha und Holli. Wir sehen Elend und Missbrauch, aber auch Momente von Unbeschwertheit, Poesie und Abenteuerlust. Das Schreckliche und das Schöne liegen hier nah beieinander. Worum ging es Ihnen bei dieser Exposition, Herr Herzog?
ANDREAS HERZOG: Mir ging es darum, den Zuschauer zuerst einmal an Maschas wunderbarer, innerer Traumwelt teilhaben zu lassen, um Fallhöhe für den Moment zu erzeugen, in dem wir erfahren, dass Hollis Mutter Opfer eines schrecklichen drogeninduzierten Irrtums ist. Dazu habe ich verschiedene Mittel zur filmischen Überhöhung verwendet. In der Hütte gibt es zwar kein fließendes Wasser und keinen Kühlschrank, trotzdem wirkt sie mit den Graffitis, dem Spielzeug, der Hängematte erst mal wie Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt. Mathilda, das Mädchen, das die 4-jährige Holli gespielt hat, empfand das Motiv als spannenden Abenteuerspielplatz. Die Musik von Chris Bremus sowie die Soundcollagen im Club suggerieren uns mit dezenten Hinweisen auf drohendes Unheil, alles sei schön und farbenfroh und wunderbar, bis dann die von Holli gepusteten Seifenblasen platzen und sich damit die schockierende Wahrheit offenbart, in der sich unsere beiden Heldinnen befinden.
Bei ihrem Einbruch finden Mascha und Holli eine Tote. Hier beginnt der Kriminalfall, in den alle Figuren irgendwie verstrickt sind. Das ist raffiniert erzählt. Verraten Sie uns, ohne zu spoilern, wie Sie das komponiert haben.
E.S.: Dieser kombinatorische Fall ist halb offen erzählt. Man weiß von Anfang an, dass Mascha, die eigentliche Hauptfigur, hier nur Zeugin ist. Während die Polizei noch nach ihr sucht, wissen wir schon: Da steckt noch irgendwas anderes dahinter. Durch diese Erzählweise können wir länger bei Mascha bleiben, bei ihrem persönlichen, emotionalen Schicksal. Und zugleich werden wir neugierig auf die anderen Figuren, weil klar ist, dass sie etwas verbergen. Wir sehen schnell, dass es bei diesen angeblich funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft auch nicht richtig korrekt zugeht. Mascha bleibt auch im weiteren Verlauf der Ermittlungen eine spannende Figur, weil sie ein Geheimnis kennt, das den Ermittler*innen weiterhelfen würde, das sie aber erst sehr spät preisgibt.
A.H:. Ein positives Alleinstellungsmerkmal des „Polizeiruf 110“ gegenüber dem „Tatort“ ist eine Krimistruktur, in der die Frage nach dem Mordmotiv viel schwerer wiegt als die Frage, wer den Mord begangen hat. Das befreit von der lästigen Pflicht, am Ende des Films in langen Dialogpassagen die ganze Tätermotivation und den Tathergang nachzuliefern. Und es schafft Raum, um sich in der Erzählung mehr auf die Täter einzulassen, sich vielleicht sogar mit ihnen zu identifizieren und sich die Frage zu stellen: „Wie hätte ich in dieser Situation reagiert, könnte ich selbst unter gewissen Umständen zum Mörder werden?“ In „Diebe“ lässt sich irgendwann gar nicht mehr mit Sicherheit bestimmen, wer denn nun Opfer und wer Täter ist. Eine Geschichte, in der die Frage nach der Schuld an einem Verbrechen ausschließlich dem Täter in die Schuhe geschoben wird, ist meiner Ansicht nach ohnehin nicht erzählenswert.
Auch Konrad Bödecke, der Ehemann der Toten, ist in diesem ganzen Spektrum schwer einzuordnen. Welche Funktion hat er in diesem Spiel?
E.S.: Der ist interessant, weil man an ihm sehen kann, wie wirksam Vorurteile sind. Konrad Bödecke löst – ganz unabhängig von dem, was seine Frau sagt oder tut – schon allein durch die Altersdifferenz zu ihr Skepsis aus. Man denkt sofort an Erbschleicherei oder irgendwas Unlauteres. Gleichzeitig tut der Mann einem auch ein bisschen leid, weil er in diesem Leistungs-, Besitz- und Anerkennungsstrom mitzuschwimmen versucht, es aber nicht schafft. Irgendwie rennen alle einem großen Ziel hinterher, das mit Besitz und Anerkennung zu tun hat. Diese Figuren suchen das Glück, aber sie scheitern und machen sich schuldig dabei.
Die Montagesequenz in der Mitte des Films wirkt wie ein Moment des Innehaltens. Was erzählen Sie damit?
E.S.: Das ist so ein bisschen der Tiefpunkt. Die Figuren kriegen ihr Leben und vor allem ihre Beziehungen nicht wirklich auf die Reihe. Das sind alles Leute, die sich abstrampeln, dabei aber übersehen, dass ihnen etwas ganz anderes fehlt. Und in dieser Sequenz spürt man kurz, dass sie alle eine große Sehnsucht verbindet.
A.H.: Die Montage gibt uns zuerst einmal Zeit, etwas durchzuatmen und die Ereignisse bis zu diesem Punkt nicht nur in Bezug auf den Kriminalfall, sondern auch emotional zu verarbeiten. Gleichzeitig erleben wir alle Figuren, die Guten und die „Bösen“, die ihre Konflikte mal mehr und mal weniger erfolgreich lösen, vereint in einem Moment der Einsamkeit und der gemeinsamen Angst, am Leben zu scheitern.
„Diebe“ ist Ihr erstes Buch für den Rostocker Polizeiruf, Frau Schuch. Die Folgen von Bukows Abgang sind im Team noch zu spüren. Wie haben Sie sich dieser in steter Bewegung begriffenen Truppe genähert?
E.S.: Zunächst mal war ich natürlich begeistert, dass ich für die schreiben durfte. Obwohl ich, wie wahrscheinlich jeder, Charlie-Hübner-Fan bin, bin ich ein noch größerer Lina-Beckmann-Fan. (lacht) Die Annäherung an diese Figuren war ein work in progress. Weil es ja nicht nur das Ermittlerinnen-Duo gibt, ist das ein relativ großes Team. Und dadurch, dass Thiesler, Pöschel und ihr Chef Röder im Hintergrund für Streit sorgen, ist da auch immer was los. Die stecken alle noch in einer Findungsphase, sowohl die Schauspieler*innen als auch ihre Charaktere. Natürlich schließt man an das Buch davor an, zugleich wollte ich die beiden Ermittlerinnen aber trotz der durchaus noch bestehenden Konflikte ganz langsam und dezent ein wenig annähern.
Kommen wir noch mal auf das Elternthema zurück, das sich durch den Film zieht. Wir erleben Katrin König hier in der Rolle der Tochter. Ihre Treffen mit ihrem Vater wirken kurz und sehr schmerzhaft. Was war Ihnen hier wichtig?
E.S.: Es war von Anfang an klar, dass das zwischen den beiden nichts Niedliches werden kann. Zum einen, weil ihr Vater die ganze Zeit abwesend war. Zum anderen aber auch, weil Katrin König nicht die Person ist, die sich ihrem Papa gleich beim ersten Treffen an den Hals wirft. Insofern galt es herauszufinden, was diesen Mann eigentlich davon abgehalten hat, seine Tochter zu besuchen. Und wie Katrin König reagiert. Weil sie Erfahrung mit Zurückweisungen hat, begegnet sie ihm erst einmal mit einem gesunden Misstrauen. Sie ist nicht wirklich bereit, sich auf diesen Menschen einzulassen. Das fand ich tatsächlich auch für die Figur sehr schmerzhaft. Bei allem Misstrauen schwingt immer auch ein bisschen Sehnsucht mit, denn schließlich ist es ihr Vater, der da vor ihr sitzt. Um dieses Spannungsverhältnis ging es mir beim Schreiben.
A.H.: Sich von den Eltern abzunabeln, ist ein Prozess, der nicht mit der ersten eigenen Wohnung erledigt ist. Dieses Thema begleitet uns bis ins eigene Grab. Bin ich als Erwachsener ein Abziehbild meiner Eltern geworden, oder bin ich nur deshalb ganz anders, weil ich auf keinen Fall so werden wollte wie meine Eltern? Auch dieses Spannungsfeld wird sowohl mit der Figur von Katrin König als auch mit Mascha genauer unter die Lupe genommen. Diesbezüglich könnten sich die beiden freundschaftlich auf die Schulter klopfen und sagen: „Ist einfach scheiße gelaufen mit unserer Kindheit, das verbindet uns“. Erstaunlicherweise ist Melly Böwe diejenige, die als Einzige zumindest versucht, die Vater-Tochter Beziehungen in dieser Geschichte zu reparieren.
Wie gefällt Ihnen der fertige Film, Frau Schuch?
E.S.: Andreas Herzog hatte viele ganz wunderbare Ideen. Er hat es geschafft, diesem wirklich harten Fall poetische, märchenhafte Momente gegenüberzustellen. Angefangen bei der Gartenlaube, die im Film nicht nur eine schlimm runtergekommene Bleibe ist, sondern auch eine Art Gegenwelt. Das finde ich toll, weil es das unterstützt, was mir wichtig war, nämlich Mascha nicht als schlechte Mutter zu erzählen, jedenfalls nicht nur. Auch wenn da eine komplette Verwahrlosung stattfindet und Mascha ganz bestimmt keine vorbildliche Mutter ist, ist die Beziehung zwischen ihr und Holli die wesentliche in dieser Geschichte, bis zum Schluss. Sie ist die schönste Beziehung und gleichzeitig eine der schrecklichsten. Solche Widersprüche gefallen mir, und Andreas Herzog hat dafür genau die richtigen Bilder gefunden.
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