Kinderhandel in Deutschland: Das Geschäft mit der Unschuld
Lucy sagt kein Wort, als sie routiniert in ihrem weißen Kleidchen in den Kofferraum ihres Vaters steigt. Sie hat lange blonde Locken, trägt das Make-Up, das ihre Mutter ihr zuvor aufgetragen hat und ist gerade mal zehn Jahre alt. Im Kofferraum versteckt, wird sie von ihrem Vater in den Wald gefahren. Dort übergibt er sie einem Freier, der sie sexuell missbrauchen wird. Lucy ist eines der beiden Mädchen, die im Film "Operation Zucker: Jagdgesellschaft" verkauft und missbraucht werden.
Kinderhandel gibt es auch in Deutschland
Die Handlung des Krimis, der auf eigenen Recherchen des Autorenteams beruht, ist näher an der Realität als viele denken – und zwar an der deutschen Realität. Kinderhandel gibt es nicht nur irgendwo in Asien oder Osteuropa.
Wie groß das Problem hierzulande ist, kann man allerdings nur ahnen. Es gibt keine Zahlen. Eine Orientierung gibt das jährlich erscheinende Bundeslagebild "Menschenhandel" des Bundeskriminalamts.
Nicht nur im Rotlichtmilieu gibt es Fälle
2014 gab es demnach 557 Opfer im Bereich Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. 95 Prozent davon sind Frauen. 266 von ihnen, also fast die Hälfte, waren unter 21 Jahre alt. Diese Zahlen zeigen allerdings nur die abgeschlossenen Ermittlungen. "Fälle, die nicht aus dem Rotlichtmilieu stammen, sind in dem Bericht kaum zu finden", sagt Mechthild Maurer, Geschäftsführerin von ECPAT Deutschland, einem Verein, der Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen will. Was aber nicht heißt, dass es sie nicht gibt.
Der "typische" Täter
Die meisten kindlichen Opfer findet man laut Mechthild Maurer vor allem im so genannten pädosexuellen Bereich. Die Täter sind hier fast immer Männer. Die leben aber nicht zwingend am Rande der Gesellschaft, sondern oft auch mittendrin. "Im akademischen Bereich gibt es da eine gute Streuung", sagt Mechthild Maurer. "Die haben meistens eine gute Täterstrategie, lassen sich Zeit und bauen Vertrauen zu ihren Opfern auf."
Die Loverboy-Strategie
Bei den nachpubertären Opfern dominiert die so genannte Loverboy-Strategie. Ein Loverboy ist ein junger Mann zwischen 18 und 25 Jahren, der ein Mädchen erst in sich verliebt macht und es dann zur Prostitution zwingt. Als Druckmittel verwendet er dann zum Beispiel anzügliche Fotos oder er droht damit, der Familie des Mädchens etwas anzutun. Diese Fälle aufzudecken, ist gar nicht so einfach.
Die Scham ist riesig
"Die Mädchen erstatten so gut wie nie Anzeige, weil die Hemmschwelle so groß ist", sagt Bärbel Kannemann vom Verein "No Loverboys". "Die Mädchen schämen sich vor der Reaktion des Umfelds und haben Angst vor der Gewalt der Täter. Aber an fast jeder Schule, an der ich bin, gibt es Opfer." Und auch die Loverboy-Opfer findet man fernab des Rotlichts. Laut Bärbel Kannemann stammen immer mehr Mädchen sogar aus den oberen sozialen Schichten.
Flüchtlinge sind besonders gefährdet
Inzwischen gibt es in Deutschland eine neue Gruppe, die besonders in Gefahr ist: minderjährige Flüchtlinge. Schon auf der Flucht gibt es viele Situationen, in denen Kinder an Menschenhändler oder Schleuser geraten können. Aber auch hier in Deutschland sind sie längst nicht sicher.
"Wir hatten zum Beispiel den Fall eines Jungen aus Gambia, der in der Erstaufnahmeeinrichtung schnell von anderen Afrikanern kontaktiert und zum Drogenhandel genötigt wurde", erzählt Mechthild Maurer. Unbegleitete Flüchtlinge haben es da besser, auch wenn das erstmal nach einem Widerspruch klingt.
Der "unechte" Onkel
"Für unbegleitete Flüchtlinge ist sofort das Jugendamt zuständig und sie kommen gleich in gesonderte Unterkünfte oder zu Pflegeeltern", sagt Mechthild Maurer. "Bei begleiteten Kindern sagt bei der Erstaufnahme oft jemand, dass er der Onkel oder große Bruder des Kindes sei. Das wird dann aber nicht geprüft."
Gefahr geht für die Kinder aber nicht nur von anderen Flüchtlingen aus. "Es gab auch schon deutsche so genannte Gutmenschen, die ein Flüchtlingsmädchen erst großzügig zu sich zum Abendessen einladen und sie dann zum Sex zwingen", erzählt Mechthild Maurer. Oft werde den Opfern auch damit gedroht, dass sie kein Asyl bekommen, wenn sie jemandem etwas davon erzählen.
Schützt Deutschland eher die Täter?
Die Kommissarin im Film "Operation Zucker: Jagdgesellschaft" bezeichnet Deutschland als "Täterschutzland". Ganz so krass möchte Mechthild Maurer das nicht ausdrücken. Aber es könnte ihrer Ansicht nach mehr gemacht werden, um die Opfer besser zu schützen. "Die Polizei hat wenig Personalressourcen für diese Delikte, da sind die Schwerpunkte anders gesetzt", sagt sie. Außerdem gebe es wenig, was für alle 16 Bundesländer verbindlich ist. "Bis jetzt hat das alles keine Struktur, da rutscht so viel durch."
Deswegen hofft sie auf ein Bundeskooperationsmodell zwischen Polizei, Justiz, Jugendamt und Jugendhilfe, damit alle diese Instanzen besser zusammenarbeiten können. Und Filme wie "Operation Zucker: Jagdgesellschaft" in Zukunft nichts mehr mit der Realität zu tun haben.
Von Nicole Ficociello