SENDETERMIN So., 12.11.23 | 23:50 Uhr | Das Erste

"Alles und nichts sagen"

Eva Menasse über das Debattieren in hitzigen Zeiten

Eva Menasse über das Debattieren in hitzigen Zeiten | Video verfügbar bis 12.11.2024 | Bild: WDR

Die Stimmung ist angespannt, zum Teil aggressiv und unversöhnlich: Seit dem barbarischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober finden in Berlin und anderen deutschen Großstädten sowohl Pro-Palästina-Demonstrationen als auch Kundgebungen für die Solidarität mit Israel statt. "Es ist gerade so schwierig, in der Mitte zu bleiben und sich nicht diesem binären 'Entweder-da-oder-da' zu unterwerfen", sagt die Schriftstellerin Eva Menasse. "Wir müssen immer moralisch eindeutig sein, wenn es gegen unschuldige Menschen geht. Und deswegen kann ich gegen Hamas sein, aber auch gegen die faschistischen Anteile in der derzeitigen israelischen Regierung. Das widerspricht sich überhaupt nicht."

"Gefühlsblind"

Was wir jetzt erleben, so Eva Menasse, ist Ausdruck einer veränderten Debattenkultur im digitalen Zeitalter. Darüber hat sie einen Essay geschrieben, der unter dem Titel "Alles und nichts sagen" bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Es ist ein Text über das Internet und doch viel mehr. Sie beschreibt darin die Folgen der Digitalisierung, die viel weiter reichen, als uns bewusst ist, wenn wir online Reisen buchen oder über einen Messenger-Dienst Smileys verschicken. Wir denken, fühlen, streiten und informieren uns anders. Im Dickicht der unterschiedlichen Nachrichtenquellen verlieren wir die Orientierung. Und in den Sozialen Medien kommt uns der Kompass für den angemessenen Umgangston abhanden.

"Ich glaube, es liegt klar zutage, dass sich das nicht nur ein bisschen geändert hat unsere Art zu kommunizieren, sondern wirklich so kategorial, dass wir als Menschen davon verändert werden. Wir hängen an so einem Mahlstrom an Informationen und Unterhaltung, also Entertainment im Wortsinn, und sehen nicht mehr, was unser Nebenmensch tut, wie es dem geht, ob der leidet, ob wir dem helfen könnten, ob der uns bedroht. Also wir werden auf eine gewisse Weise gefühlsblind."

Vergiftete Debatten

Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, begann ihre berufliche Karriere als Journalistin beim österreichischen Magazin "Profil" in Wien. Sie war Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London und arbeitete nach einem Aufenthalt in Prag als Kulturkorrespondentin in Wien. Seit 2003 lebt sie in Berlin. Für ihre Bücher (u.a. "Vienna", "Quasikristalle" und "Dunkelblum") wurde sie mehrfach preisgekrönt. Gemeinsam mit Deniz Yücel ist sie Sprecherin des 2022 gegründeten PEN Berlin.

Sie ist es gewohnt, sich einzumischen, und ergreift das Wort auch und gerade dann, wenn Debatten einseitig zu werden drohen. "Wer hat wie schnell 'aber' gesagt? Wer hat viel zu früh 'Kontext' gesagt? Es genügen Satzfetzen, um zu wissen, dass der andere mein Gegner ist. Das ist, glaube ich, eines der ganz giftigen Elemente in allen Debatten. Aber da die Antisemitismus- und Israel- und Nahost-Debatte so besonders schmerzhaft ist in diesem Land, ist es an der Stelle noch schlimmer."

Ihr Essay leistet auch einen Beitrag dazu, das "Skandal-Geschrei" zu dämpfen und im Dialog und Diskurs abzurüsten. "Ich glaube, wenn viele Leute oder mehr Leute vernünftig und sachlich bleiben in der Debatte – und das geschieht gerade jetzt auch in diesen aufgeheizten Zeiten, dann trauen sich die Leute auch wieder selber zu denken. Ich glaube, das Selber-Denken-Potenzial ist in Deutschland schon relativ ausgeprägt, nur das Selber-Sprechen noch nicht so sehr."

Buchtipp

Eva Menasse: Alles und nichts sagen.
Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne
Kiepenheuer & Witsch 2023, Preis: 22 Euro

Autor des TV-Beitrags: Max Burk

Die komplette Sendung steht am 12. November ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.

Stand: 12.11.2023 17:54 Uhr

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