So., 01.05.22 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Sachbuch
Platz 10) Ulrike Guérot: "Wer schweigt, stimmt zu"
Ein niederschmetterndes Beispiel für die Wahnwelt von Verschwörungstheoretikern. Die Politikwissenschaftlerin diagnostiziert ein Generalversagen von Politik, Universitäten und Medien, faselt etwas über Anthony Faucis angebliches Wissen über die "Laborthese", also den Ursprung des Virus in einem Labor in Wuhan, und kommt zu dem Schluss: "Die Demokratie muss jetzt vor Corona gerettet, nicht Corona auf Kosten der Demokratie bekämpft werden." Demokratie, wie sie Ulrike Guérot versteht, lässt sich auf jedem Friedhof besichtigen.
9) Gregor Gysi: "Was Politiker nicht sagen ... weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht"
Gregor Gysi ist ein brillanter Rhetoriker und überdies eine grundsympathische Plaudertasche. In diesem Buch liefert er aber – anders als der Titel verspricht – weder eine Abhandlung über Tabuzonen der politischen Kommunikation, noch eine echte Analyse politischer Rhetorik; stattdessen wird hauptsächlich geplaudert. Das Ergebnis ist zwar durchaus unterhaltsam, aber einfach Kraut und Rüben.
8) Navid Kermani: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen."
Wie kommuniziert man religiöse Erfahrung über Generationen? Kermanis Dialog mit seiner Tochter über den Islam ist auch für Atheisten erkenntnisträchtig.
7) Richard David Precht: "Freiheit für alle"
Mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens tue ich mich schwer – einfach, weil ich der Überzeugung bin, dass es gegen die Natur des Menschen verstößt. Aber ich muss zugeben, dass mich Richard David Precht mit seinem sorgfältig recherchierten, klug argumentierenden und auch die Gegenpositionen mitreflektierendem Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen in der auf die Arbeitsgesellschaft folgenden "Sinngesellschaft" umgestimmt hat. Jedenfalls fast.
6) Peter Hahne: "Das Maß ist voll"
Einem wahren Großmeister der Sprache bei der Arbeit zuzuschauen, bereitet doch immer wieder Vergnügen. Im neuen Buch von Peter Hahne findet sich doch tatsächlich der Satz: "Viele Ehen und Familien, besonders unsere Zukunft, die Kinder, sitzen doch jetzt auf den Trümmern ihrer Existenz." Das stelle ich mir sehr traulich vor, wie die Ehen und die Familien, die Kinder und unsere Zukunft da auf den Trümmern sitzen und Peter Hahne dabei zusehen, wie er Sätze schreibt, die das Gehirn der Ehen und der Kinder, der Existenz und der Zukunft, und ja, nicht zuletzt meines, gequält zusammenzucken lassen.
5) David Garret und Leo G. Linder: "Wenn Ihr wüsstet"
Diese Autobiographie ist Konfektionsware, wie man sie eben bekommt, wenn man mit einem professionellen Ghostwriter zusammenarbeitet. Ich kann dieses Buch nicht verreißen, weil es trotz aller Synthetik und Glätte doch einige Einblicke in das Leben eines guten Musikers gewährt. Aber lieben, lieben kann ich es nicht.
4) Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern"
Christiane Hoffmann wandert den Fluchtweg der Familie ihres Vaters nach, den diese am 22. Januar 1945 aus Schlesien Richtung Westen eingeschlagen hat. Klug und differenziert erzählt die heutige Regierungssprecherin den Verlauf dieser Flucht und ihre Familiengeschichte. In Zeiten, wo sich diese Geschichten von Flucht und Vertreibung wiederholen, muss man schon ein ziemlich dickes Brett von ideologischen Vorurteilen vor dem Kopf haben, um aus Ablehnung dieser vermeintlichen Tätergeschichten nicht ihre Relevanz zur Selbstvergewisserung einer Nation zu erkennen.
3) Catherine Belton: "Putins Netz"
"Machen Sie mir keine Angst", soll Putins Mentor Anatoli Sobtschak aufgestöhnt haben, als er erfuhr, dass dieser als Premierminister eingesetzt wurde, um Boris Jelzin vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Die Britin Catherine Belton war lange Russland-Korrespondentin der "Financial Times". In ihrem Buch zeichnet sie in akribischer Recherche nach, wie sich ein Netzwerk des KGB rund um Vladimir Putin eine Atommacht zur Beute machte. Und welche westlichen Politiker ihnen dabei behilflich waren. Erkenntnisreich!
2) Kurt Krömer: "Du darfst nicht alles glauben …"
Depression ist ein schweres Schicksal, keine Frage. Und wenn es einen wortwitzigen Komiker wie Kurt Krömer trifft, ist mein Mitleid bei ihm. Aber wenn ein Akteur des Medienbetriebs seine eigene Krankheitsgeschichte so anwanzerisch in schlimmstem Dummdeutsch ausschlachtet und schreibt: "Ist ja klar, dass Selbstmordgedanken auf akute Schwierigkeiten hinweisen und man das auf gar keinen Fall unterschätzen darf.", dann ist ein Maß an intellektueller Unterkomplexität erreicht, dass mein Urteil über dieses Buch – wohlgemerkt nicht aber über den Menschen – leider feststeht.
1) Marietta Slomka: "Nachts im Kanzleramt"
Eine Art Sendung-mit-der-Maus-Buch über den deutschen Politikbetrieb. Ich liebe zwar die Sendung mit der Maus. Und ich weiß, wie wichtig es ist, die Leute abzuholen. Aber ich fühle mich von diesem Buch nicht abgeholt, sondern abserviert. Für Kinder vielleicht nicht schlecht, für Jugendliche wahrscheinlich zu flach, für Erwachsene schlicht zu langweilig. Eine Enttäuschung.
Stand: 01.05.2022 23:35 Uhr
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