So., 12.12.21 | 23:50 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt: Marieke Lucas Rijneveld – "Mein kleines Prachttier"
Ich möchte Ihnen einen Roman vorstellen, der von der alles verzehrenden Liebe eines 49-jährigen Tierarztes zu einer 14-jährigen Bauerstochter erzählt. Geschrieben hat ihn Marieke Lucas Rijneveld, er trägt den Titel "Mein kleines Prachttier", und natürlich fragt man sich als erstes, ob man hier wirklich von Liebe sprechen kann oder nicht von Missbrauch und sexueller Obsession. Das wird jede Leserin, jeder Leser selbst entscheiden müssen, denn die Autorin entscheidet es nicht für einen.
Angesiedelt ist dieser Roman im calvinistischen Bible Belt der Niederlande. Dieses lustfeindliche christliche Umfeld sorgt für reichlich Neurosen, und so wundert es denn nicht, dass Mann und Mädchen, die Rijneveld wie zwei Güterzüge auf einer eingleisigen Bahnlinie aufeinander zurasen lässt, schwer traumatisiert sind. Der Tierarzt wurde als Kind von seiner Mutter sexuell missbraucht. Aber erklärt das wirklich die übergriffige Liebe dieses Mannes? Mehr als schräg ist aber auch die unglaublich anschaulich geschilderte Phantasiewelt des Mädchens, das sich einen Penis wünscht, sich in eines der Flugzeuge verwandelt, das bei den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 in die Twin Tower fliegt, und das Nacht für Nacht Sigmund Freud und Adolf Hitler auf ihrer Bettkante empfängt, um mit ihnen den Tag durchzusprechen. Klingt bizarr? Ist bizarr – und unwiderstehlich. Dies ist ein Roman, der unter die Haut geht: "Mein kleines Prachttier" ist einfach große Kunst, und die darf sich bekanntlich auf alles stürzen – auch ohne moralische Wertung von sexuellem Missbrauch erzählen.
So muss es sich angefühlt haben, Vladimir Nabkovos "Lolita" bei Erscheinen gelesen zu haben. Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie "Mein kleines Prachttier" von Marieke Lucas Rijneveld, erschienen in der glänzenden deutschen Übersetzung von Helga van Beuningen im Suhrkamp Verlag.
Stand: 12.12.2021 23:50 Uhr
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