Wissenschaftliche Studie: Kindheit und Krieg – Langer Schatten des Zweiten Weltkriegs

Familienbild aus den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs
Familienbild aus den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs. | Bild: Brigitte Rossow/privat

Autorin: Barbara Stambolis

"Kriegskinder" – Facetten im Überblick

Im Mai 2020 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Seit der sechzigsten Wiederkehr dieses Ereignisses fanden einstige "Kriegskinder", Menschen, die zwischen 1930 und 1945 geboren sind, vor allem in Deutschland breite mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Viele von ihnen hatten lange über ihre belastenden Erfahrungen in Kindheit und Jugend nicht gesprochen. Millionen von Angehörigen dieser Geburtsjahrgänge haben Bombenangriffe, Evakuierungen und Flucht, Hunger, Armut, mangelnde Versorgung, Abwesenheit der Väter, Trennungen von Müttern, Geschwistern und den Verlust von Angehörigen erlebt. Circa 14 Millionen Menschen verloren zwischen 1944 und 1947 ihre Heimat.

Mehr als zwei Millionen Zivilisten kamen auf der Flucht und während der Vertreibung ums Leben (mehr als die Hälfte Frauen und  Kinder). In Europa wuchsen nach 1945 schätzungsweise zwölf Millionen Kinder ohne Vater auf, in Deutschland dürfte es mit rund zweieinhalb Millionen ungefähr jedes vierte Kind gewesen sein. Wenn die Väter aus dem Krieg heimkehrten, waren sie oft physisch und psychisch versehrt und blieben für die Kinder "unerreichbar".

Was Kriegskindern geholfen hat, was ihre Stärken sind und was ihre Verletztlichkeit ausmacht

Die Generation der Kriegskinder hat die Geschichte der Bundesrepublik in vielfältiger Weise geprägt, sie trug zum Narrativ der westdeutschen "Erfolgsgeschichte" maßgeblich mit bei, ohne dass dabei stets der Preis des Erfolgs mitbedacht wurde. Als belastend erleben viele einstige Kriegskinder in der Rückschau, dass in ihren Familien viel verschwiegen wurde. Oft wurde nicht nach Verstrickungen in das NS-Unrechtsregime gefragt. Flüchtlingskinder schämten sich, sie wollten als solche in der Schule nicht erkannt werden und litten "stumm". Die Mehrheit der Kriegskinder musste früh Verantwortung übernehmen und erwachsen werden, oft ein fehlendes Elternteil "ersetzen", was mit Überforderungen verbunden war.

Ihnen wurde viel abverlangt, aber für ihre Traurigkeit gab es selten Aufmerksamkeit und Verständnis. Sie haben angepackt, wenig auf sich geachtet, waren diszipliniert und haben "funktioniert". Zu ihren Prägungskräften gehören Verlässlichkeit, Selbständigkeit und Tatkraft, oft gepaart mit Strenge gegenüber sich selbst beziehungsweise Nichtachtung von Überforderungs- und Erschöpfungsanzeichen nach dem Motto: "Sei nicht so zimperlich". Zu ihren Erfahrungen gehört das Wissen um die Brüchigkeit "heiler Welten". In dieser Hinsicht lässt sich ein deutlicher Einstellungsunterschied zwischen den Altersgruppen feststellen, auch wenn Arbeit nach wie vor in erheblichem Maße zum Selbstwertgefühl beiträgt. 

Zur Infografik: Die Mehrheit der Kriegskinder ist der Meinung, dass Arbeit immer an erster Stelle stehen sollte, auch wenn das weniger Freizeit bedeutet. In den nachfolgenden Generationen sind weitaus weniger dieser Meinung.

Zahlreiche Kriegskinder waren bildungshungrig und leistungsorientiert. Ihnen eröffneten sich im jungen Erwachsenenalter Bildungschancen, sie profitierten von der Abschaffung des Schulgeldes, Erleichterungen des Übergangs zu höheren Schulen und der Aussicht auf Stipendien. Junge Frauen kamen allerdings vielfach später in den Genuss bildungspolitischer Initiativen und Veränderungen als junge Männer. Traditionelle soziale Milieus, z.B. kirchliche Bindungen, begannen sich aufzulösen. Es setzte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ein. Neue soziale Bewegungen gewannen an Einfluss.

Vor allem veränderten sich Übergänge zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter sowie die Bedeutung von "Alter". Erwachsene Kinder sorgen nach wie vor für alte Eltern, aber letztere übernehmen auch finanzielle und emotional fürsorgliche Verantwortung für erstere. Umfragen hatten ergeben, dass Interviewte in diesem Zeitraum in Westdeutschland auf die Frage, was sie in der Erziehung der eigenen Kinder anders machen würden als die Eltern, zunehmend antworteten: weniger streng, verständnisvoller, selbständiger. Weniger wichtig als nach dem Krieg waren ltern Anpassungsbereitschaft, Bescheidenheit und religiöse Orientierung.

Zur Infografik: Die Kriegskinder geben im zunehmenden Alter eine höhere Zufriedenheit mit ihrem Leben an als in den Lebensabschnitten zuvor. 

Körperliche Strafen waren selten geworden. Für eine Mehrheit von Kriegskindern – männlich wie weiblich – ist kennzeichnend, dass sie das Ende von Disziplin und Härte in der Erziehung begrüßen. Eine große Zahl möchte sich nicht in der Weise kontrollierend in das Leben ihrer erwachsenen Kinder einmischen, wie dies teilweise ihre Mütter getan haben. Sie freuen sich, wenn sie großelterlich gebraucht werden und in den Familien ihrer Kinder unterstützend tätig sein können.

Datenbasis der Auswertung ist die Langzeitstudie European Values Study (EVS), die seit 1981 in der Regel alle neun Jahre in mehreren europäischen Ländern durchgeführt wird. Die Umfragedaten ermöglichen einen Vergleich der Kriegskindergeneration (Jahrgang 1930 bis 1945) mit denen der Generation ihrer Kinder (Jahrgang 1955 bis 1970) und der Generation ihrer Enkel (Jahrgänge ab 1980).

Die Auswertung von EVS-Daten sowie die Kommentierung durch die Historikerinnen Prof. Dr. Barbara Stambolis und Priv.-Doz. Lu Seegers ist Teil des crossmedialen Projekts „Kinder des Krieges“ -  ein Gemeinschaftsprojekt aller Rundfunkanstalten der ARD.

Manche erschrecken bei dem Gedanken, das Scheitern einer Partnerschaft bei ihren Kindern und das Aufwachsen von Enkeln in Haushalten mit einer alleinerziehenden Mutter oder in einer Patchwork-Familie könne zur Neuauflage von Problemen mit Vaterlosigkeit und Vaterferne führen, wie sie diese erlebt haben. Sie beobachten gerne, dass junge Väter liebevolle "gute" Väter sind.

Zur Infografik: In der Kriegskindergeneration ist es weit verbreitet, es als eines der Lebensziele zu betrachten, die eigenen Eltern stolz zu machen. In der Generation ihrer Kinder wird dies seltener angegeben. Die Generation ihrer Enkel sieht dies wiederum ähnlich häufig so.

Kriegskinder im Alter und ihre Familien: Fragen zu Autonomie und Einsamkeit

Die gedanklichen "Reisen", die einstige Kriegskinder in ihre Vergangenheit angetreten haben, finden ihren Ausdruck in Niederschriften zum persönlichen Gebrauch in Familien, in Veröffentlichungen im Selbstverlag, im Falle prominenter Kriegskinder in viel gelesenen Autobiographien oder in unterschiedlichen dokumentarischen medialen Formaten. Manchen Kriegskindern ist während ihrer intensiven Beschäftigung mit ihren frühen Erfahrungen nicht zuletzt deutlich geworden, dass der offene Umgang mit Gefühlen für sie ungewohnt ist.

Betroffene schildern ihre innere Einsamkeit und Ungeborgenheit als Kinder, vor allem eine aus der Rückschau als grundlegend empfundene fehlende körperliche Nähe zu ihren Müttern und ihre eigene möglicherweise auf frühen Erfahrungen resultierende Unfähigkeit, Zärtlichkeit zu zeigen, die eigenen Kinder beispielsweise umarmen zu können.

Dass Angehörige der Kriegsgeneration sich auf solche Gefühlsfragen und wohl lange vernachlässigte Gefühlsbedürfnisse einlassen, ist angesichts ihrer Erfahrungen keineswegs selbstverständlich. Einer ganzen Reihe von Kriegskindern, Männern wie Frauen, gelingt es indes offenbar, "Mitleid" im Sinne von empathischem Mitgefühl für das "Kind von einst" zuzulassen, ein nicht selten auch im Familiengespräch durchaus klärender und manchmal wohl geradezu befreiender Schritt. So entsteht Verständnis dafür, sich in die "Bedürftigkeit" eines alten Elternteils einzufühlen.

Als schwierig erweist sich dagegen eine grundlegende Haltung einstiger Kriegskinder im Alter, keine Hilfe annehmen zu können beziehungsweise ihre hochgeschätzte Autonomie nicht aufgeben zu wollen. Als Kinder, die Bombenangriffe, Verlust ihrer Heimat und Trennung von Angehörigen sowie weitere kriegsbedingte Belastungen erlebten, hatten sie gelernt, "unauffällig" zu sein. Eigene Wünsche zu äußern, war kaum möglich, denn es herrschte eine allgemeine Kargheit. Außerdem galten "Bescheidenheit" und Sparsamkeit als Tugenden. Tränen zu zeigen und zu klagen, hätte aufgrund damaliger Erziehungsvorstellungen als Schwäche gegolten.

Kinder hatten sich in Extremsituationen, während der Flucht mit Müttern und Geschwistern etwa, gleichsam auf diese Weise instinktiv das Überleben gesichert: Wenn sie Probleme bereitet hätten, hätten sie zusätzliche Belastungen verursacht. Nicht um etwas bitten zu wollen, z.B. körperliche und seelische Schmerzen nicht äußern zu wollen beziehungsweise zu können, erweist sich im Alter allerdings als problematisch. Der Ernst einer gesundheitlichen Situation oder die Dramatik eines Leidens ist auf diese Weise manchmal nur schwer einzuschätzen.

 Für pflegende Angehörige ist es zudem anstrengend, wenn sie beobachten müssen, dasstraumatische Erlebnisse sich in der Wiederkehr von Ängsten in Situationen zeigen, in denen die Erlebnisse unmittelbar wieder aufgerufen werden (als Gefühl von Überwältigung, Entsetzen, Hilflosigkeit und Ohnmacht). Mit einiger Sicherheit lässt sich sagen, dass eine Atmosphäre des Schweigens und Verschweigens auch für diejenigen belastend ist, die nicht den eigentlichen Erlebnisgruppen angehören.

Traumatische und im weitesten Sinne stark belastende Erfahrungen hinterlassen auch Spuren in den Familien der Nachgeborenen. Aus einem umfangreichen Projekt über Folgen des Hamburger Feuersturms oder zum Beispiel auch aus psychologischen Studien an der Universität Leipzig wissen wir, dass das Thema der transgenerationalen Weitergabe noch weitreichender Forschungen bedarf.

Zur Infografik: Gutes Benehmen, Fleiß, Sparsamkeit im Umgang mit Geld und Dingen und Gehorsam wird häufiger von den Kriegskindern als von den nachfolgenden Generationen als besonders wichtig erachtet. Phantasie und Unabhängigkeit werden hingegen seltener als besonders wichtig eingeschätzt.

Über die Autorin: Prof. Dr. phil. habil. Barbara Stambolis ist Historikerin, Professorin in Neuerer und Neuester Geschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Studien zu Kriegskindheiten und ihren Folgen sowie zu Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert.

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