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Go West Go East – Verrechnet oder verraten?

Flucht über die dänische Botschaft

Wolfgang Mayer, der Kopf der Gruppe, mit seiner damaligen Ehefrau Gisela und seinen Kindern Fanny und Felix nach ihrer Ausreise
Wolfgang Mayer, der Kopf der Gruppe, mit seiner damaligen Ehefrau Gisela und seinen Kindern Fanny und Felix nach ihrer Ausreise | Bild: MDR / Archiv G. Pudras

Vier Uhr morgens, am 9. September 1988 machten sie sich von Ilmenau im heutigen Thüringen auf den Weg: sieben Männer, sechs Frauen und fünf Kinder. Ihr Ziel: die dänische Botschaft in Ost-Berlin. Schlaflose Nächte lagen hinter ihnen, eine ungewisse Zukunft liegt vor ihnen – und die Hoffnung, vielleicht doch noch in den Westen ausreisen zu dürfen. Seinen ersten Ausreiseantrag stellte Wolfgang Mayer, der Kopf der Gruppe, bereits 1986. Er und die anderen erwachsenen Mitglieder der Gruppe litten wegen ihrer Ausreiseanträge seit Jahren unter Berufsverboten, Ausgrenzung und Diskriminierung durch die DDR-Behörden.

Seit Jahren auf den richtigen Zeitpunkt gewartet

Kurz nach 11 Uhr betraten die Familien nach und nach in kleinen Gruppen das Botschaftsgebäude. Der Weg führte über den Eingang der Komischen Oper. Der Botschafter ließ sich nicht blicken, als seine Vertretung erschien der diensthabende Botschaftsrat. Der erste spontane Versuch, die DDR-Bürger der Botschaft zu verweisen, schlug fehl, die Familien blieben. Für die Gruppenmitglieder ging es um das Timing. Seit Jahren hatten sie auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, nun schien er gekommen. Denn wenige Tage später, am 13. September, sollte der dänische Ministerpräsident Poul Schlüter der DDR und ihrem Staatschef Erich Honecker einen Staatsbesuch abstatten. Das "Neue Deutschland" titelte später von "Ausbau und Vertiefung der Zusammenarbeit" zwischen der DDR und Dänemark. Der Termin, so die Hoffnung der Gruppe, würde den außenpolitischen Druck auf die DDR und damit die Chancen einer Bearbeitung ihrer Ausreiseanträge von hoher, von kompetenter Stelle vorantreiben.

Die Gruppe Ilmenauer nach ihrer Haft bzw. Aufenthalt im Kinderheim im Herbst 1988
Die Gruppe Ilmenauer nach ihrer Haft bzw. dem Aufenthalt im Kinderheim im Herbst 1988 | Bild: MDR/Archiv G. Pudras

Unter westlichen Partnern gab es eine klare Verabredung: Falls es zu einer Botschaftsbesetzung kommt, wird zunächst nur das eigene Außenministerium kontaktiert. Ziel ist es, den Ausreisewilligen zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen. Die Mitarbeiter der dänischen Botschaft setzten jedoch überraschender Weise auf die Zusammenarbeit mit den DDR-Behörden.

In der Nacht, gegen 2.30 Uhr, erschienen in der Botschaft mehrere Dutzend Stasi-Mitarbeiter in zivilen Trainingsanzügen. Zwei Reisebusse rollten in den Hof, die Stasi stand Spalier und erwartete die Familien. Den Thüringern war klar: Der Westen war nun weiter weg als je zuvor. Ihre Fahrt ging ins Stasi-Hauptquartier in die Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg. Stundenlange Verhöre folgten. Die Kinder wurden in Heime gebracht und ebenfalls verhört, darunter auch der damals zwölfjährige Felix Mayer: "In einer der ersten Nächte hat mich jemand ständig aufgeweckt. Doch meine Eltern hatten mich vorbereitet, ich habe mich dumm gestellt."

Politischer Druck auf die DDR wuchs

Der Fluchtversuch scheiterte an diesem Septembertag noch, doch er sollte Folgen haben. Zehn Tage später war er Top-Thema in den Hauptnachrichten der "Tagesschau". Nun erfuhren erstmals die westdeutsche und die dänische Öffentlichkeit von dem Fall. Dadurch wuchs auch der politische Druck auf die DDR. Die Männer der Gruppe wurden im Oktober 1988 zu Bewährungsstrafen verurteilt, die Frauen nach zehn Tagen "aus humanitären Gründen" aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie dürfen mit ihren Kindern nach Ilmenau zurückkehren. Fünf Monate später werden die Familien von der BRD freigekauft und können ausreisen. Dass die Strafen nicht drakonischer ausfielen, lag wohl vor allem daran, dass der Fall in Dänemark zum echten Politikum wurde und damit die DDR unter Druck setzte.

Rekonstruktion einer Botschaftsflucht in der DDR

Für viele Dänen und die Medien galt die Zurückweisung der DDR-Bürger als unmoralisch, peinlich, skandalös. Es wurde sogar ein Untersuchungsausschuss eingerichtet, der klären sollte, warum die dänischen Diplomaten so bereitwillig mit den DDR-Funktionären kooperierten. Der Abschlussbericht belastete den Botschafter schwer, er soll an allem schuld sein und wurde als alleiniger Entscheidungsträger zur Verantwortung gezogen. Ein Bauernopfer?

Was genau wurde in den Hinterzimmern ausgehandelt und von wem? Was passierte wirklich? Erstmals freigegebene Dokumente legen die Spur für die Rekonstruktion einer Botschaftsflucht in der DDR, die zum Ausgangspunkt für spätere Massenfluchten über westliche Botschaften in Prag, Budapest oder Warschau wurde und damit auch zum Teil für die spätere Friedliche Revolution 1989.

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